Andachten - - Erstellt von Diakonin Ruth Dittus

Sternstunde

„Hör auf zu suchen“, sagte mein Bruder vor vielen Jahren. Ich hatte in einem Haufen Bücher herumgesucht, der in einem Schuppen lag. Viele Bücher waren zerrissen, ohne Einband, von manchen fehlte ein Teil – der Stapel war wohl für den Reißwolf bestimmt. Doch für mich waren sie Schätze, ich war eine Leseratte. Ich las alles was mir interessant schien: Lebensbilder, Abenteuergeschichten, Romane... Bücher zu kaufen, das war zu teuer.

Vorspiel

Begrüßung

Einleitung: 

„Sternstunde“ diesen Begriff habe ich für heute ausgesucht.

Stefan Zweig beschreibt in seinem Buch „Sternstunden der Menschheit“ viele Begebenheiten, die die Menschen bewegten, ja die ganze Welt veränderten. Sternstunden in der Musik, der Architektur, der Wissenschaft, der Literatur, der Religion – fast alle Bereiche beschreibt Zweig.

Wenn wir sagen, „das war eine Sternstunde für mich", dann meinen wir, dass etwas Besonderes geschehen ist, etwas, das unser Innerstes tief berührte, wir vielleicht die göttliche Kraft -das Heilige- in uns gespürt haben. Sternstunden, meistens sind es ja keine Stunden sondern eher Augenblicke, doch sie haben Wirkung weit über den Moment hinaus. Ich lade Sie ein nachzudenken, wo Sie in Ihrem Leben eine Sternstunde erlebt haben, etwas das Sie Ihr Leben lang begleitet hat.

- Pause – meditative Musik -

(Erzählen lassen)

Ich möchte Sie auch an einer Sternstunde teilhaben lassen:

„Hör auf zu suchen“, sagte mein Bruder vor vielen Jahren. Ich hatte in einem Haufen Bücher herumgesucht, der in einem Schuppen lag. Viele Bücher waren zerrissen, ohne Einband, von manchen fehlte ein Teil – der Stapel war wohl für den Reißwolf bestimmt. Doch für mich waren sie Schätze, ich war eine Leseratte. Ich las alles was mir interessant schien: Lebensbilder, Abenteuergeschichten, Romane... Bücher zu kaufen, das war zu teuer.

Mein Bruder hatte aus einem Buchladen Zeitschriften, Bücher und Journale geholt, die er für die Buchhandlung ausfuhr und manchmal, wenn ich Zeit und Lust hatte, begleitete ich ihn durch die Stadt. Manchmal bekamen wir ein paar Äpfel, ein Stück Kuchen oder ein Stück Brot.

Nun, in der Advents- und Weihnachtszeit war ich immer dabei, denn in dieser Zeit waren die Menschen offener, freigebiger. Wir bekamen fast immer etwas geschenkt.

So zogen wir auch an diesem Nachmittag los um die Schriften, die mein Bruder auf einen Wagen aufgeladen hatte, zu verteilen. Wir verteilten Geschichten von Glanz und Elend, von Schiffstaufen und Brückeneinstürzen, Artikel über Überschwemmungen und bunte Bilder von Hochzeiten aus Königshäusern.

„Bring das hinauf“, sagte mein Bruder und gab mir ein Paket. Zu Kühnemann, Nummer 23 – du musst zwei Treppen hochsteigen. Ich nahm das Paket und stieg durch das stille Treppenhaus nach oben. Ich klingelte, jemand öffnete. „Guten Tag“, sagte ich – "ich bringe ihre Bestellung." Ich fügte hinzu: „Fröhliche Weihnachten“ , denn mein Bruder meinte, das wäre ein Zauberwort. Ich sagte es mit heller Stimme, die Frau sah mich lächelnd an, nahm mir das Paket ab und meinte: „Warte einen Augenblick.“ Sie ging in die Wohnung zurück.

Ich trat einen Schritt vor und sah in die Wohnung hinein. Da hingen Hirschgeweihe und Jagdbilder an den Wänden. Ich erinnere mich noch ganz genau daran und fand das ganz merkwürdig. Es passte so gar nicht in meine Welt. Dann kam die Frau zurück und gab mir eine Tüte. „Eine Kleinigkeit für dich – es ist ja bald Weihnachten.“ Ich bedankte mich und flog die Treppen hinab. Es hatte sich gelohnt. In der Tüte waren drei Äpfel, ein paar Gutsle und viele Karamellbonbons.

Wir verteilten weiter die Welt und bekamen hier und da auch weiter etwas geschenkt.

Es war schon dämmrig, als wir vor dem mächtigen Gebäude des Lehrerseminars standen. „Du gehst zum Direktor“, meinte mein Bruder, „ich gehe unterdessen zum Hausmeister.“ Er dachte wohl, dass ich als Mädchen  besonders reichlich beschenkt würde. Ich ging ein Stück den Flur entlang und wollte klingeln. Ich hob meine Hand – aber irgend etwas hielt mich davon ab, etwas hielt meine Hand fest. Damals hätte ich nicht sagen können, was ich heute weiß. Ich war ein Kind, ich war stumm und konnte nichts antworten.

Denn eine zauberhafte Musik schwebte aus dem oberen Stockwerk, ganz zart durchdrang sie die Stille. Sie breitete sich aus wie ein sanfter Flügelschlag und flutete durch das ganze Haus. Heute würde ich sagen: Es war damals so, wie wenn ein himmlischer Flügel mich berührt hätte. Die Töne sprachen mich an: „Hörst du mich?“ Ja, ich hörte eine Woge von Geigen und Celli. Und die Bässe vereinten sich mit meinem Herzschlag. Die Welt um mich herum war plötzlich hell. Selbstvergessen hielt ich den Atem an. Ich bekam eine Gänsehaut, als  die Trompeten spielten.

In der Ferne hörte ich eine Stimme. Ich verstand nicht, was sie sagte.

Vielleicht -so dachte ich- war das eine Stimme aus dem Märchen, die sagte: „Sesam öffne dich“ und als habe diese ferne Stimme den Felsen geöffnet, begann die Musik noch einmal das Haus zu erfüllen und ich stand und hörte und hörte... und vergaß die Welt.

Der letzte Ton war verklungen und es war wieder ganz still. Ich wartete noch eine Weile bis ich wieder die Treppe hinabstieg. Als ich das Haus verließ war es draußen bereits dunkel.

Mein Bruder schrie: „Wo warst du denn so lange? Ich stehe hier und friere fest. Hast du da drin etwas gegessen?“ „Nein“, antwortete ich. Mein Bruder stellte verärgert fest, dass ich auch nichts mitgebracht hatte. „Dich kann man zu nichts gebrauchen“, meinte er brummig. "Ich schicke dich zum Direktor und du bringst nichts mit. Ich war nur beim Hausmeister und habe eine Tüte voller Nüsse bekommen. Komm, wir müssen nach Hause, es ist schon spät.“ 

„Du“, fragte ich meinen Bruder, „weißt du, wer da drin musiziert?"  „Die Seminaristen“, antwortete er. Ja, meine Hände waren leer geblieben, aber nur meine Hände. Damals habe ich geahnt, dass es nicht nur Brot, Äpfel und Süssigkeiten sind, nach denen ich verlangte. Heute weiß ich, dass es eine andere Sehnsucht gibt.

Damals stillte ich meinen Wissensdurst mit zerrissenen Büchern, die niemand mehr haben wollte. Heute weiß ich, dass mich damals Musik aus dem Weihnachtsoratorium „satt“ gemacht hat. Und ich glaube dass es besonders der Choral „Dein Glanz all Finsternis verzehrt“ war, der mich so berührt hat. Damals gingen wir durch die dunkle Nacht wieder nach Hause und die Sterne zogen mit uns. Der Stern von Johann Sebastian Bachs Musik ist mir damals aufgegangen. Meine Sternstunde.

Ich schließe mit einem Text von Corinna Mühlstedt:

„Jeder Mensch hat im Leben „seinen“ Stern ...."
aus: Sander, Ulrich (Hrsg.): In heiliger Nacht, Herder-Verlag

Lied als Gebet „ Stern über Bethlehem, zeig uns den Weg“

Vater unser

Segen

Nachspiel