Gottesdienste und Predigten - - Erstellt von Pfarrerin Cornelia Reusch

Jeder hat sein Päckle zu tragen

Jeder hat sein Päckle zu tragen.“ Diese schwäbische Weisheit ist allgemein verständlich und anschaulich und macht es uns nicht schwer, ihm zuzustimmen.

Liebe Gemeinde,
sicher kennen Sie den Satz „Jeder hat sein Päckle zu tragen.“
Er ist allgemein verständlich und anschaulich und macht es uns nicht schwer, ihm zuzustimmen oder diese Worte selbst in den Mund zu nehmen.
„Jeder hat sein Päckle zu tragen.“

Hat er nicht Recht, dieser Satz? Da wird uns etwas aufgebürdet, eine Last, die wir tragen müssen, mit uns schleppen. Viele Jahre, ja manchmal ein Leben lang.
Ein Päckle – das so harmlos daher kommt, mit dem schwäbischen verniedlichenden –le und durchaus eine gehörige Last sein kann.
Ein Päckle, das niederdrückt und belastet. Sichtbar oder unsichtbar. Manchmal sieht man Menschen es auch äußerlich an, wenn sie über Jahre so eine Last mit sich tragen.
Oder man spürt, wie gebremst ihre Lebensfreude ist.

Ich denke an Frauen, die mitten im Krieg sich verlobten oder heirateten und dann fiel der Mann. Sie blieben ehe- und kinderlos, gezeichnet durch den Verlust.
Tapfer tragen Frauen und Männer ihr Päckle. Versuchen trotz einer Bürde ihren Weg zu gehen, ihre Spur durchs Leben zu finden. Die Trennung von einem Menschen, der Verlust eines Kindes oder ein unerfüllt gebliebener Kinderwunsch, eine Krankheit, ein Handicap – all das kann zu solch einem Päckle werden.
Es gibt viele beeindruckende Lebenswege und –schicksale, und ich empfinde oft große Hochachtung, wenn ich in Gesprächen hier im Haus, in der Reha oder auch im Pflegestift erlebe, wie Menschen ihr Leben meistern – ihr Päckle tragen.

„Jeder muss sein Päckle tragen“. Ja, da ist was dran.

Aber immer wieder ruft dieser Satz auch Widerstand in mir hervor. Immer dann, wenn darin resignative und frustrierte Töne mitschwingen. „Jeder muss sein eigenes Päckle tragen und niemand kann mir dabei helfen.“
Da regt sich Widerspruch in mir. Stimmt das so?

Gibt es nicht auch die andere Erfahrung, wie an einem Tiefpunkt unseres Lebens, in einer großen Not oder Verzweiflung ein Mensch zur Stelle war, uns sah und anhörte und aushielt. Sich freundlich anbot, uns hilfreich zu unterstützen, um den Alltag zu bewältigen, ein Problem anzugehen. Vielleicht uns im Gebet fürbittend begleitete?
Konnten wir da nicht die Erfahrung machen, dass die Last auf unseren Schultern seine Schwere verlor, leichter wurde?
Unsere Seele aufatmete und wir wieder Hoffnung und Mut fassten?
Ja, auch das  gibt es – Gott sei Dank!

Unser Predigttext nimmt das Bild von der Last auf.
“Einer trage des andern Last – so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“
So schreibt Paulus voller Besorgnis an die Gemeinde in Galatien. Eine Fülle von Hinweisen und Ratschlägen, denen man anmerkt wie besorgt und beunruhigt er ist.
Offenbar herrscht dort ein Geist, der nichts erkennen lässt von der Qualität und Besonderheit einer christlichen Gemeinde.
„Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.“
Die junge Gemeinde – ehemals eine Art Vorzeige– oder Modellgemeinde – hatte sich anders entwickelt als Paulus es erhofft und erwartet hatte.
„Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden.“
Wie sehr sehnen wir uns danach, jemanden darzustellen, uns abzuheben von den andern. Wir möchten uns ins rechte Licht setzen, sind bemüht besser zu sein als die anderen, sind bestrebt die eigenen Vorzüge hervorzuheben.

Wir verzehren uns nach Anerkennung.
Eigentlich ist daran nichts auszusetzen, ginge dieses Bedürfnis nach Anerkennung nicht einher mit dem Versuch andere abzuwerten.
Wer sich ins rechte Licht rücken, sich gut präsentieren kann, der tut dies oft auf Kosten anderer.
„Eitle Ehre“ nennt Paulus dies. Er warnt vor Ehrsucht und Neid. „Sieh auf dich selbst, dass du nicht versucht werdest“. Niemand ist vor solchen Regungen gefeit – und oft kommen sie im religiösen Gewand daher.
Paulus will die Gemeinde und uns erinnern an die umwälzende Erkenntnis, die dem Glauben zugrunde liegt. Er wagt einen Perspektivwechsel, einen neuen Blick.

Als wir am vergangenen Donnerstag in einer Gruppe von Mitarbeitenden eine enge, steile Treppe auf die Türme der Stadtkirche hinaufstiegen, und uns auf den Umgang in luftiger Höhe wagten und hinunterschauten auf Esslingen, da staunten wir, wie verändert und neu unser Blick auf die vertraute Umgebung war. Wie klein die Menschen und Autos, die Gassen und Häuser. Alles ganz vertraut – und doch anders.

Paulus will uns zu solch neuem Blick verhelfen wenn er schreibt: „Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.“
Lasst Euch erinnern, dass Ihr Getaufte seid. Ihr habt Gottes Geist empfangen. Und wenn ihr als Getaufte Gottes Geist empfangen habt, dann wandelt und lebt auch so, dass man euch anmerkt, dass ihr von Gottes Geist erfüllt und verwandelt seid.

Ich stelle mir vor, dass Paulus umgetrieben war von den Nachrichten aus Galatien. Ob sie ihm den Schlaf geraubt haben? Ob er um Worte gerungen hat und plötzlich dieses Bild sich formte: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Einer trage des andern Last. Das klingt so anders.
Wie bei einer Waage mit zwei Schalen: Einmal wird die eine gefüllt und senkt sich unter dem Gewicht herab. Ein andermal die andere. Da ist nicht festgelegt wer die Last trägt. Da gibt es ein lebendiges Hin und Her. Kein Oben und Unten, kein Gefälle.

Wie wohltuend klingt das. Wie hilfreich. Da ist nicht festgelegt, wer welche Rolle auszufüllen hat.
Im Gegenteil: Da bin ich einmal die, die ihre Last ablegen darf, die Unterstützung braucht, die sich eine Auszeit gönnt.
Und dann kommt eine Zeit, wo ich meine Kraft und meine Gaben für andere einsetze, die es jetzt brauchen. „Einer trage des andern Last.“  Da spüre ich, dass ich atmen kann, dass da der Hauch der Freiheit weht.
Weder muss ich krampfhaft alles alleine bewältigen, noch muss ich immer und überall für andere da sein.

Gottes Geist will in und durch uns wirken. Wir sind befreit, erlöst von allem ängstlichen Kreisen um uns selbst, allem Zwang, uns ins rechte Licht zu rücken.
 „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“
Wenn wir das Wort „Gesetz“ hören, dann denken wir an Paragraphen und Bestimmungen. Es klingt in unseren Ohren wenig vielversprechend.
Dabei verbirgt sich in diesen beiden Worten „Gesetz Christi“ etwas Großes und Kostbares.
In Florenz hängt in einer Kirche eine eindrückliche Christusdarstellung des Künstlers Cimabue (Ende 13. Jhdt.).

Eindrücklich und bewegend, was dieser Christus ausstrahlt:
Die ausgebreiteten Arme, der Leib, der sich in leichter Beugung an das Kreuz schmiegt. Leidend und doch würdevoll, zutiefst menschlich und voller Gottesliebe.
1966 suchte ein schlimmes Hochwasser die Stadt Florenz heim. Unzählige Gemälde und Kunstschätze versanken in den Fluten.
Auch der Christus von Cimabue sank in die Wasserfluten.

Alte Fotos zeigen seine Rettung: Behutsam tragen Männer das Christusbild, um es an einen trockenen Ort zu bringen.
Bis heute trägt der Christus von Cimabue die Spuren des Wassers. Bewusst wurde es nicht restauriert. Das Gesicht des Christus ist verwüstet. Erschütternd und bewegend anzuschauen.
Christus, der alles Leid der Menschen teilt, auch das Leid jener Flut. Für mich ist es ein Bild, wie Christus mit uns lebt und unser Leben teilt – auch heute.
Wir tragen Christus durch die Fluten und er trägt uns.
Wir sind seine Hände, weil wir selbst Gehaltene sind.
Wir sind seine Füße, weil wir selbst Getragene sind.
So bleibt Christus unsere Mitte, unser Halt.
Wir empfangen und können weitergeben.
Befreit von der Sorge um uns selbst, beflügelt und bewegt von Gottes Geist, der weht wo und durch wen er will.
Amen.