Geschichten und Gedichte - - Erstellt von Pfarrer Matthias Hannig

HAJA

Haja“, sagt sie, als sie – gestützt auf ihren Rollator – langsam über den Flur schlurft, der zum Gottesdienstraum führt. Freitags ist Andacht im Pflegeheim, und sie ist immer dabei. Je nachdem, wie sie das „haja“ ausspricht – erschöpft, begeistert, in wütenden Stakkatos von sich schleudernd – kann ich erkennen, in welcher Stimmungslage sie sich befindet.

„Haja“, sagt sie, als sie – gestützt auf ihren Rollator – langsam über den Flur schlurft, der zum Gottesdienstraum führt. Freitags ist Andacht im Pflegeheim, und sie ist immer dabei. Je nachdem, wie sie das „haja“ ausspricht – erschöpft, begeistert, in wütenden Stakkatos von sich schleudernd – kann ich erkennen, in welcher Stimmungslage sie sich befindet.

„Haja, haja, haja….“ – so kommentiert sie gut hörbar auch den Verlauf der Andacht.
„Der Herr ist mein Licht und mein Heil“ – „haja“ – vor wem sollte ich mich fürchten?“
……. „sondern erlöse uns – „haja“ – von dem Bösen.“ Manche Mitbewohner fühlen sich gestört: Mit Zischlauten versuchen sie, sie zur Ruhe zu bringen. Jemand empört sich im breitesten Schwäbisch: „Dur´s Maul zua!“

Immer seltener bekommt sie Besuch. Vielleicht, so denke ich mir, wird sie nicht persönlich gemieden, sondern die von ihr verkörperte Lebensform. In die Situation, in der sie ist, möchte ja gewiss niemand geraten. Und so wird dem Anblick des Unerträglichen einfach ausgewichen.

Manchmal fällt es auch mir, dem Seelsorger, schwer, an der Tür ihres Zimmers zu klopfen und ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Gehe mittlerweile ja auch auf die ´60´ zu und werde ab und zu von Altersängsten geplagt. Könnte ich aushalten, was Frau L. aushalten muss? Lieber tot als sprachlos und gelähmt? Allein schon die Vorstellung eines weitgehend kommunikationslosen Für-sich-Seins löst Panik bei mir aus? Warum ist die 86jährige „Haja“-Frau nicht panisch, nicht verzweifelt? Vielleicht kann nur jemand verzweifeln, der seine Verzweiflung in Worten oder Handlungen auszudrücken imstande ist. Gibt es Umstände, unter denen einem Menschen selbst die Freiheit zur Verzweiflung genommen ist?

„Haja“, so werde ich freudig begrüßt, als ich das Zimmer betrete. Wir sitzen uns gegenüber, sie in ihrem Ohrensessel, ich auf einem Stuhl, auf dem gerade noch ein Kissen, eine Handtasche und ein Apfel lag…. Ich weiß, woher sie stammt, und erzähle ihr, was ich als informierter Leser der Lokalpresse über die aktuellen Ereignisse ihres Heimatorts in Erfahrung gebracht habe: wie die Maibaumaufstellung verlaufen ist, welchen Ausgang die Bürgermeisterwahl genommen hat und wie die Bevölkerung auf die Schließung des Lebensmittelladens reagiert. Will sie das hören? Widert sie mein Gerede an? Durchschaut sie meine Unsicherheit?

„Haja“, sagt sie freundlich lächelnd und drückt mir den Apfel in die Hand, der vorher noch auf ihrem Stuhl lag. So falsch kann mein Verhalten also nicht gewesen sein…. Ist es ein Defizit nur „Haja“ sagen zu können. Nein, ich bewundere Frau L. dafür, dass sie in einem einzigen Ausruf ausdrücken kann, wofür ich – intellektuell verbildet – sermonartig aufgeblähte Lebensweisheiten von mir gebe.

„Im Anfang war das Wort.“ So beginnt das Johannes-Evangelium. Macht die Sprachfähigkeit den Menschen aus? Sicher nicht. Aber wichtig ist doch, dass mit uns gesprochen wird, auch mit Frau L. Unmenschlich wäre es, wenn niemand mit denen redete, die nur noch ein „Haja“ über die Lippen bringen können.

Alte Menschen, zumal wenn sie ´sprachlos´ sind, sind immer weniger für irgendwelche Dinge verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen – weder durch ihre Arbeit, noch durch ihre Intelligenz. Sie lehren uns, dass der Mensch nicht für Zwecke da ist. Wenn wir sie annehmen – und damit auch uns in unserem Unperfektsein – zeigen sie uns, was Gnade ist: dass der Mensch ungerechtfertigt da sein darf, nicht ausgewiesen durch seine Stärken und seine Verwendbarkeit.

Es ist eine – auch theologisch relevante – Befreiung für mich, das am Leben hängende „Haja“ einer alten Frau zu hören. Mag ihr ´Jünger´sein und freue mich daran, dass ihr „Haja“ so klingt wie „Kommen Sie bald wieder!“.