Gottesdienste und Predigten - - Erstellt von Pfarrerin Bettina Hoy

Alt werden ist nichts für Feiglinge

„Ach ja, früher, zwei Stufen auf einmal, manchmal sogar drei... Bei einer normalen Haustreppe mit sagen wir fünfzehn Stufen betrug der Zeitaufwand, um von einem Stockwerk in das nächst höhere zu gelangen, ein paar Sekunden.

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
„Ach ja, früher, zwei Stufen auf einmal, manchmal sogar drei... Bei einer normalen Haustreppe mit sagen wir fünfzehn Stufen betrug der Zeitaufwand, um von einem Stockwerk in das nächst höhere zu gelangen, ein paar Sekunden.

Heute, fünf Stufen, langsam nacheinander, dann zehn Sekunden Pause, dann wieder fünf Stufen … An schlechten Tagen brauchst du also für den Aufstieg in die obere Etage … ungefähr zehnmal so lang.“
So, liebe Gemeinde, beginnt der Schauspieler Joachim Fuchsberger sein Buch, von dem ich mir den Titel für diese Predigt geliehen habe: „Alt werden ist nichts für Feiglinge“.
Wie wird es mir gehen in Zukunft? Viele empfinden das Altsein mit seinen großen und kleinen Zipperlein als Last.
„Es ist eben alles abgenutzt“, sagte meine Großmutter in hohem Alter humorvoll von sich selbst, als sie nicht mehr schnell gehen konnte und eine Stütze beim Gehen brauchte – einen Stock oder besser den hilfreichen, stützenden Arm eines anderen Menschen. Diese Abhängigkeit von anderen, zu der die Altersschwäche führt, beklagen viele Menschen ganz besonders.

Solche Ängste und Sorgen hatten auch schon Menschen vor uns. Auch der Beter des 71. Psalms fürchtete sich vor dem Alter.

Hören Sie den ganzen Psalm:
Herr, ich suche Zuflucht bei dir.
Lass mich doch niemals scheitern!
Reiß mich heraus und rette mich in deiner Gerechtigkeit,
wende dein Ohr mir zu und hilf mir!
Sei mir ein sicherer Hort, /
zu dem ich allzeit kommen darf. Du hast mir versprochen zu helfen; /
denn du bist mein Fels und meine Burg.
Mein Gott, rette mich aus der Hand des Frevlers, /
aus der Faust des Bedrückers und Schurken!
Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, /
meine Hoffnung von Jugend auf.
Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich, /
vom Mutterschoß an bist du mein Beschützer; /
dir gilt mein Lobpreis allezeit.
Für viele bin ich wie ein Gezeichneter, /
du aber bist meine starke Zuflucht.
Mein Mund ist erfüllt von deinem Lob, /
von deinem Ruhm den ganzen Tag.
Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin, /
verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden.
Denn meine Feinde reden schlecht von mir, /
die auf mich lauern, beraten gemeinsam;
sie sagen: «Gott hat ihn verlassen. /
Verfolgt und ergreift ihn! /
Für ihn gibt es keinen Retter.»
Gott, bleib doch nicht fern von mir! /
Mein Gott, eil mir zu Hilfe!
Alle, die mich bekämpfen, /
sollen scheitern und untergehn; über sie komme Schmach und Schande, /
weil sie mein Unglück suchen.
Ich aber will jederzeit hoffen, /
all deinen Ruhm noch mehren.
Mein Mund soll von deiner Gerechtigkeit künden /
und von deinen Wohltaten sprechen den ganzen Tag; /
denn ich kann sie nicht zählen.
Ich will kommen in den Tempel Gottes, des Herrn, /
deine großen und gerechten Taten allein will ich rühmen.
Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf /
und noch heute verkünde ich dein wunderbares Walten.
Auch wenn ich alt und grau bin, /
o Gott, verlass mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, /
den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke /
und von deiner Gerechtigkeit, Gott, die größer ist als alles. Du hast Großes vollbracht. /
Mein Gott, wer ist wie du?
Du ließest mich viel Angst und Not erfahren. /
Belebe mich neu, /
führe mich herauf aus den Tiefen der Erde!
Bring mich wieder zu Ehren! /
Du wirst mich wiederum trösten.
Dann will ich dir danken mit Saitenspiel /
und deine Treue preisen; mein Gott, du Heiliger Israels, /
ich will dir auf der Harfe spielen.
Meine Lippen sollen jubeln, /
denn dir will ich singen und spielen, /
meine Seele, die du erlöst hast, soll jubeln.
Auch meine Zunge soll von deiner Gerechtigkeit reden den ganzen Tag. /
Denn alle, die mein Unglück suchen, müssen vor Scham erröten und scheitern.

So lesen wir Psalm 71, den ganzen Psalm, in der Einheits-Übersetzung.
Er beginnt mit einem Hilferuf, mit einem kräftigen Hilfeschrei. Ja, das ist erlaubt, ein Hilferuf zu Gott. Denn Gott hat versprochen, bei uns zu sein, mit uns zu gehen. Daran erinnert sich der Beter. Sich selbst und Gott erinnert er an dieses Versprechen.

Es ist zwar manchmal gut, unangenehme oder schwere Dinge und Entwicklungen gelassen hinzunehmen. Das ist manchmal das einzig richtige. Aber nicht immer und nicht alles. Manchmal dürfen und müssen wir uns auch wehren gegen die Zumutungen des Lebens und unserer Mitmenschen. Manchmal ist es doch zum Schreien. Und manchmal geht es nach dem Hilferuf und der Erinnerung an Gottes Versprechen besser.
Ja, die Erinnerungen, sie spielen eine große Rolle in diesem und in anderen Psalmen. Sie spielen eine große Rolle im Leben – je älter wir sind, umso mehr haben wir. Denn umso mehr haben wir erlebt. Und es ist schön, wenn alte Menschen aus ihren Erinnerungen Kraft schöpfen können. Ich wünsche es Ihnen.

Jedes Leben ist einmalig. Unsere Erinnerungen sind einzigartig, auch wenn wir uns natürlich mit anderen austauschen darüber und uns über Gemeinsamkeiten freuen „Weißt du noch damals?“ … - ein Austausch darüber, kann das eine große Freude werden. Und doch hat niemand ganz genau dieselben Erinnerungen wie ich. Wirklich gut leben wir nur, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass unser Leben einmalig ist. Dann hören wir auf zu vergleichen. Wir sollen und können unser einzigartiges Leben bewusst leben und auskosten, wir sollen und können es intensiv wahrnehmen.

Der Beter von Psalm 71 erinnert sich auch daran, was ihm in seiner Jugend Hoffnung und Kraft gegeben hat. Das können wir auch tun. Was hat uns früher Freude gemacht, was hat uns Mut gemacht? Was hat uns gestärkt? Von Jugend auf – so erinnert er sich – hat er auf Gott vertraut. Vielleicht kann er dabei auch das Kind finden, das er einmal war, und so einen wichtigen Teil von sich selbst entdecken, sein inneres Kind, seine „kindliche Seele“, die vor allen seinen schlechten und schmerzhaften Erfahrungen geschützt blieb.

Der Psalmbeter sagt sich, dass Gott vom ersten Moment seines Lebens an dabei war und ist. Er erinnert sich, dass und wie er früher Gott vertraut hat: mit Lob.
Mit Lob Gottes erinnern wir uns an Gottes Stärke und Güte. Das ist mehr als die eigene, persönliche Dankbarkeit Gott gegenüber. Diese ist und tut auch gut: sich dankbar zu erinnern, was wir Gutes erfahren haben im Leben. Doch Lob Gottes ist noch mehr. Es ist nicht gebunden an unsere eigenen Erfahrungen, die ja nicht immer nur gut waren und sind. Aber Gott trotzdem zu loben, das hebt uns über unseren eigenen Horizont hinaus – und das hilft, weil es uns an Gottes Größe erinnert.

Eine Garantie gegen Angst und Leid ist das nicht. Auch der Psalmbeter kennt schlimme Erfahrungen und Zukunftsangst. Angst und Vertrauen wechseln sich ab in Psalm 71. Er ist eben aus dem richtigen Leben.
Der Beter spricht in drastischen Worten von seinen Feinden. Jeder und jede kann wohl die Gedanken und Befürchtungen des Psalmbeters im Blick auf bestimmte Menschen nachvollziehen.
Und der Wunsch, dass Menschen, die Alte verspotten und verachten, sich schämen sollten, dass sie scheitern sollen, ist nur zu verständlich. Ich bin froh, dass die Psalmen solche negativen menschlichen Wünsche aufnehmen und nicht verdrängen.

Doch es gibt es auch, die Feinde in uns. Das sind die Selbstvorwürfe, dass wir manches falsch gemacht haben im Leben. Mit diesen Feinden müssen wir uns aussöhnen.
Wir müssen akzeptieren, dass manches vorbei ist und nicht wiederholt werden kann. Sehr Vieles im Leben ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wir müssen uns aussöhnen mit unserer eigenen Geschichte und sie annehmen – das ist eine wichtige und schöne Aufgabe. Wir können unsere Vergangenheit nicht ändern, nur unsere Einstellung dazu. Wir sollten uns nicht selbst beschuldigen, aber auch nicht selbst entschuldigen. Sondern wir können unser Leben Gott hinhalten.

Auch das, was uns andere angetan haben, können wir Gott übergeben, damit es uns nicht mehr schmerzt.
Wir sind so geworden, wie wir sind – durch unser eigenes, ganz unverwechselbares Leben. Dieses Leben kann einen neuen Glanz bekommen – auch jetzt noch. Wenn wir den inneren Reichtum unserer Seele entdecken.

„Glaubt mir“, schreibt Joachim Fuchsberger: „Das Alter ist eine ständige Gewinn- und Verlustrechnung – aber: der Gewinn ist mindestens so hoch, wie der Verlust, den man zu erleiden hat.“
Trotz all dem wird die Angst vor dem Älterwerden immer wieder kommen.
Der Beter des 71. Psalms weiß, wohin mit dieser Angst. Er wendet sich an Gott. Schon manchmal dachte er, es geht nicht mehr weiter – und es ging und geht doch weiter. Immer wieder im Leben hat er und haben wir Trost und Bewahrung erfahren. Daran sich zu erinnern, das hilft.

Und mit der Bitte: „Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin, verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden.“, können auch wir uns an Gott wenden. Jederzeit.
Denn Gott spricht: „Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet, bis ihr grau werdet, will ich euch tragen. Ich habe es getan, und ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten.“

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
 
Literaturhinweise:
Fuchsberger, Joachim: Alt werden ist nichts für Feiglinge, Gütersloher Verlagshaus 2011
Grün, Anselm: Leben ist jetzt - Die Kunst des Älterwerdens. Herder Verlag Freiburg 2009