Seelsorge und PflegeKriegstraumata

Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, dass unter den Jahrgängen der damals 20- bis 30- Jährigen im zweiten Weltkrieg jeder zweite als Soldat gefallen ist. Allein diese Zahl macht deutlich, welchem unsäglichen Leid die Familien ausgesetzt waren.

Es gab praktisch keinen Familienverbund, der keine Toten zu beklagen hatte. Viele Soldaten, Väter, Brüder und Söhne sind während des Krieges gefallen. Für Familien waren zusätzlich traumatische Erfahrungen, dass Kinder von ihren Eltern durch die sogenannte Kinderlandverschickung getrennt wurden. Die alleingelassenen Kinder litten unsäglich unter der Bombardierung ihrer Heimatstädte, weil sie häufig nichts von ihren Eltern hörten. So wurden sie mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen .

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges im Mai 1945 war für Millionen von Menschen der Krieg noch lange nicht beendet. Hunderttausende flohen vor der heranrückenden Roten Armee: Zuerst aus den durch das Deutsche Reich besetzten Gebieten in Osteuropa, anschließend innerhalb und aus der sowjetisch besetzten Zone in Ostdeutschland. Man kann sich leicht ausmalen, welche unvorstellbar grausame Erfahrungen von Hunger, Krankheit, Tod und Verlorensein sich in den Menschen, die den zweiten Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen erlebten, für immer festgesetzt haben.

Sexualisierte Gewalt als Kollektivstrafe

Schätzungsweise 1,9 Millionen Frauen und Mädchen wurden mit dem Ende des Krieges von den Alliierten vergewaltigt. Besonders in den durch die Rote Armee befreiten Gebieten wurden alleine 1,5 Millionen Frauen und Mädchen Opfer von sexualisierter Gewalt, die als Kriegsmittel geduldet wurde. Diese Zahlen machen uns darauf aufmerksam, welche belastenden und beschämenden Erfahrungen eine große Zahl der Frauen im Nachkriegsdeutschland erleiden mussten.

Krieg überfordert die Seele von Menschen

In Deutschland und in all den Ländern, die von diesem Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden sind, ist die Mehrzahl der Bevölkerung mit den Kriegserlebnissen in Gänze überfordert gewesen. Wie sollte man nach diesen Jahren voller Gewalt, dem allgegenwärtigen Schrecken des Todes und der persönlichen Gefährdung über seine Ängste reden? Was den Krieg anging, herrschte im Nachkriegsdeutschland allgemeines Schweigen.

Indianer kennen keinen Schmerz

"Indianer kennen keinen Schmerz", war das Leitbild, an dem die Erziehung in den Nachkriegsjahren ausgerichtet war. Männer hatten keine Angst zu haben. Im Glauben daran, immer Stärke und Härte beweisen zu müssen, wurden die Kinder der zum Teil schwerst traumatisierten Soldaten erzogen. Denn die vielen jungen Kerle der Wehrmacht kamen als verängstigte Männer zurück, die innerlich vereinsamt und allein gelassen wurden, mit ihren Erfahrungen im Krieg. Sie versteckten ihre Scham hinter Erzählungen von der großartigen Kameradschaft, die sie unter ihren Kriegskameraden erlebt haben. Es herrschte ein stilles Übereinkommen, dass über diese angstvollen und schuldhaften Kriegserfahrungen der Mantel des Schweigens gelegt wird. Als eine der wenigen Möglichkeiten, um diesem permanenten inneren Druck auszuweichen, bot sich der Wiederaufbau an. Mit viel Arbeit konnte man all diese inneren Nöte überspielen.

Auch nach 70 Jahren findet der Krieg kein Ende

Warum beschäftigen uns heute die Kriegstraumata der älteren Generation nachdem diese Ereignisse nun über 70 Jahre vorüber sind? Mit dem zunehmenden Alter dieser Generation, lassen die inneren Kräfte nach, die Symptome von kriegsbedingten Traumata zu kontrollieren. Die bisherigen Kontrollmechanismen greifen nicht mehr.

Die meisten älteren Menschen, die heute von kriegstraumatischen Symptomen betroffen sind, waren während der Kriegstage und der Nachkriegszeit Kinder.

Wenn man alles zusammenzählt, was diesen Kindern allein während der Kriegsjahre zugemutet wurde, dann kann man davon ausgehen, dass zwei Drittel der Angehörigen der Jahrgänge 1930-1945 von Traumata belastet sind. Viele der Betroffenen leiden unter Demenz. Menschen mit Demenz können ihr augenblickliches Erleben nicht mehr steuern. Auf der anderen Seite können viele Begleiter und Begleiterinnen von Menschen mit Demenz sich nicht mehr vorstellen, wie lebendig der Krieg in der Welt von sogenannten Kriegskindern vorhanden ist.

Ein Trauma kann man mit einer seelischen Wunde vergleichen, die nicht heilen will. Jede Erinnerung an das Erlebte wird als so bedrohlich wahrgenommen, als würde es gerade erst geschehen. Sobald sich ein ehemaliges Kriegskind durch irgendeinen Auslöser wieder an die Vergewaltigung seiner Mutter erinnert, oder zum wiederholten Male den Tod seines besten Freundes durch einen Bombenangriff erlebt und dazu noch die Hilflosigkeit im dunklen Schutzbunker fühlt, liegt dies für die Betroffenen nicht in der Vergangenheit, sondern diese Ereignisse leben in diesem Augenblick in ihnen. Es wird erlebt, als geschehe es jetzt.

Die Scham verstehen und trösten

Wie begegnet man diesem inneren Grauen, das vielen Menschen im Alter so zusetzt? Traumatisierten älteren Menschen ist viel geholfen, wenn Außenstehende verstehen und aushalten, welche Angst und Scham sich seit dem Krieg in ihnen festgesetzt und angesammelt hat. Seit den Kriegsgeschehen konnten sie niemanden davon erzählen. "Sie sind aber jetzt nicht mehr allein – ich bin in diesem Augenblick bei Ihnen", diese verständnisvollen Worte von begleitenden Seelsorgenden und Pflegenden helfen ihnen ihre innere Einsamkeit zu durchdringen.

Es gibt keinen Königsweg, um Menschen mit Kriegstraumata aus dem Gefängnis ihrer kaum fassbaren Angst herauszuführen.

Wer leidet, der wartet darauf, getröstet zu werden. Es tröstet, wenn Seelsorgende diese innere Einsamkeit aufbrechen, indem sie diese unsäglichen Ängste sehen, sie Ernst nehmen und sie aushalten. Tröstlich ist es, die Hand zu halten. Was Menschen, die der Krieg in all den Jahren nicht mehr losgelassen hat, als tröstlich empfinden, ist ziemlich unterschiedlich. Es ist ein vorsichtiges Herantasten nötig, um Menschen beizustehen. Schreckensbilder verlieren ihre zerstörerische Kraft, wenn sie gemeinsam angeschaut werden. Das gemeinsame Hinsehen verändert die bisherige angstbesetzte Sichtweise und öffnet den oft verschütteten Blick auf die guten Erfahrungen in dieser Zeit. Gute Erinnerungen heilen und helfen die Angst vor der eigenen Angst zu verlieren.

Text:
Johannes Bröckel - AltenPflegeHeimSeelsorge Stuttgart 

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