Gottesdienste und Predigten - - Erstellt von Diakon Rainer Groeschel

Zeit für mich

Rose Schubert sitzt in ihrem Zimmer. Weihnachten ist vorbei. Auf dem kleinen Tisch steht noch das künstliche, bunt geschmückte Weihnachtsbäumchen.

Rose Schubert sitzt in ihrem Zimmer. Weihnachten ist vorbei. Auf dem kleinen Tisch steht noch das künstliche, bunt geschmückte Weihnachtsbäumchen, das ihr ihre Tochter hingestellt hat. Direkt neben der großen Pillendose mit der aufgedruckten Rose. Die war auch von ihrer Tochter, gefüllt mit den ovalen Pillen aus der Schweiz. Ja, das waren ihre Wunderpillen gegen die Vergesslichkeit, die tatsächlich ein bisschen geholfen hatten. So glaubte sie jedenfalls, aber vielleicht war es auch deshalb besser geworden mit ihrem Gedächtnis, weil sie sich schon eine Zeit lang nicht mehr um ihr Haus, ihren Garten und ihre Finanzen sorgen musste. Es war doch gut, dass sie beschlossen hatte ins Betreute Wohnen zu ziehen, wenn es auch einige Monate gebraucht hatte diesen Entschluss in die Tat umzusetzen.

Ein bisschen wehmütig und gedankenverloren blickt Rose Schubert auf das Kunststoffbäumchen. Jetzt ist Weihnachten auch schon wieder vorbei und das Jahr bald zu Ende. Und was war im Frühjahr gewesen? Da stürzte sie unglücklich in ihrem Zimmer und brach sich den „Oberschenkelhals“. Sie musste schmunzeln bei der Vorstellung, dass ihr rechter Oberschenkel einen Hals hatte. Sie war 14 Tage im Krankenhaus gewesen und saß seitdem im Rollstuhl, leider konnte sie auch am Rollator nicht mehr laufen. In ihrer kleinen 1,5-Zimmer Wohnung im Betreuten Wohnen konnte sie nicht mehr bleiben. Sie zog nochmals um und lebt nun in ihrem netten kleinen Zimmer im Pflegebereich des Seniorenstifts am Forst in der Wohngruppe „Regenbogen“. An der Wand gegenüber ihrem Bett hängen etliche Bilder von ihren beiden Kindern, den Enkelkindern und von den zwei Urenkeln. Immer wieder schaut Rose Schubert diese Bilder an und freut sich darüber, wie groß die Familie geworden ist. Nur – einer fehlt ihr, er hat seine Urenkel nicht mehr erleben dürfen. Ihr Willy, den sie vor ein paar Jahren hat beerdigen müssen.
Es ist schön, dass ihre Kinder sie an Weihnachten besucht haben, hier im Pflegeheim. An Heiligabend waren sie hier und haben zusammen mit ihr im Haus nachmittags den Gottesdienst besucht. Und der Diakon, der den Gottesdienst hielt, der predigte über den Tannenbaum und die Bedeutung des Tannenbaumschmucks. Das war nicht uninteressant, aber dass sich manche Leute Gurken an den Baum hängen, das konnte sie nicht glauben. Und diese gläsernen Weihnachtsgurken sollen sogar in Deutschland hergestellt werden. Der Diakon wollte sie wohl ein bisschen hochnehmen.

Doch sonst war alles an Heiligabend fast wie früher, als die gesamte Familie in hier in ihrer Heimatstadt zum Weihnachtsgottesdienst ging. Sie selbst ging damals ja immer früh los mit den Kindern, damit sie einen guten Platz in der Kirche bekäme. Aber ihr Willy, der wollte nicht so bald gehen und soooo lange warten, bis der Gottesdienst begänne. Der kam immer erst rein, als die Glocken läuteten und musste sich dann in der vollgefüllten Kirche durch die Menschenmengen drängen, bis er endlich neben ihr saß. Da haben schon manche getuschelt in ihrer kleinen Stadt, doch das war dem Willy egal. So war er nun mal. Er mochte das Warten nicht, nicht in der Kirche, nicht beim Arzt und auch nicht auf den Omnibus oder die Eisenbahn. „Nur keine Zeit verschwenden und unnütz warten.“ Das war sein Lebensmotto.  Deshalb hatte er sie ja auch so schnell geheiratet, dieser ungeduldige Mann. Sie musste lächeln, als ihr das in den Sinn kam. Und Kind Nummer 1 kam ja auch schnell, ziemlich genau neun Monate nach dem Jawort. „Nur keine Zeit verschwenden und unnütz warten.“

Ihr Blick geht auf ihr altes Hochzeitsbild, das neben der großen Wanduhr hängt. Es ist schon ganz schön verblichen, das Blau ihres Hochzeitskleides kann man kaum noch als Blau erkennen. Ach, wie jung wir da waren und was für ein stattliches Paar. … Ein paar kleine Tränen kullern an ihren Wangen hinunter … und dann wandert ihr Blick weiter und bleibt am Ziffernblatt der großen Uhr hängen. Irgendetwas stimmt da nicht. Das Pendel schwingt zwar hin und her, aber es ist keine Uhrzeit zu erkennen. Die Zeiger fehlen. … Ach ja, da kommt es ihr wieder in den Sinn: vor ein paar Tagen hatte sich ihre Enkeltochter beim Aufziehen des Uhrwerks sehr ungeschickt angestellt und die Zeiger waren abgebrochen. Zuerst hatte sie sich geärgert und mit ihrer Enkeltochter geschimpft. Diese wollte dann die Uhr zum Uhrmacher bringen, aber da meinte Rose Schubert: „So schlimm ist das auch nicht, weißt du, hier kommt immer wieder eine Pflegekraft und erinnert mich, dass es bald Essen gibt oder dass ich an einer Veranstaltung teilnehmen soll. Die kann ich ja dann fragen, wie spät es ist. Hauptsache die Uhr tickt, daran habe ich mich gewöhnt. Ja, das Ticken würde mir schon fehlen. Aber die Zeiger sind nicht so wichtig.“
Wie spät ist es denn nun eigentlich? Sie schaut aus dem Fenster, doch draußen ist es trüb und etwas regnerisch. Der Wind lässt die dünnen Äste vor ihrem Zimmerfenster schwanken. Eine Meise pickt auf dem Balkontisch ein paar Krümel auf. Der Schnee ist schon längst wieder getaut, es ist viel zu warm für diese Jahreszeit. Das Ticken der Uhr hat fast den gleichen Rhythmus wie ihr eigener Herzschlag. Immer noch hüpft die Meise auf dem Tisch herum.

Durch ihr Fenster blickt Rose Schubert auf ihr Heimatstädtchen. Da unten steht die alte Mühle, oben auf dem Berg die Kirche und das Schulhaus. Hier ist sie aufgewachsen, zur Schule gegangen und groß geworden. Hier hat sie ihre Ausbildung zur Schneiderin gemacht, hier hat sie geheiratet, hier wird sie einmal begraben werden. Diese Stadt ist - oder besser war - ihre Heimat, hier hatte sie sich wohl gefühlt.
Doch das, was sie sieht gefällt ihr weniger, aus dem kleinen verträumten Städtchen mit den schönen Fachwerkhäusern ist eine moderne Industriestadt geworden. Bis hoch an den Waldrand stehen nun Häuser und Wohnblöcke und unten im Tal sind große Industriehallen gebaut worden. Alles hat sich verändert, vieles ist abgerissen worden, begradigt und eingeebnet. Leider steht auch ihr Häuschen nicht mehr, für das sie und ihr Willy solange gespart hatten. Sie sieht drei, vier Baukräne und schüttelt den Kopf. Da drüben, da bauen sie bald ein neues Pflegeheim, und das hier wo sie jetzt wohnt, soll saniert und modernisiert werden. Und die Bewohner sollen dann umziehen. Diese Vorstellung gefällt ihr absolut nicht. Hier möchte sie bleiben bis zum Schluss. Zum Glück haben die ja erst vor ein paar Tagen den ersten, symbolischen Spatenstich gemacht. Das dauert bestimmt noch einige Zeit, bis das neue Heim fertig ist. Und ob sie den Umzug noch mitmachen muss? Vielleicht lebt sie da gar nicht mehr. Wer weiß schon genau, was die Zukunft uns bringt. …
Auf der Hauptstraße fahren aber wieder viele Autos. Sie zählt sie ein bisschen, … achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig, … das reicht. … Und wie die Menschen rennen, die haben kaum noch Zeit füreinander. Das merkt sie ja auch hier im Pflegeheim, wo die Pflegekräfte kaum herumkommen und das Meiste sehr schnell gehen muss. Wie gut, dass sie schon so alt ist. Lang wird es ja nicht mehr dauern, dann ist es vorbei. Es bleibt halt nix wie es war. Und die heutige Zeit mit all der Hektik und dem Stress … ha, das Wort kannte man früher gar nicht. Ja das alles ist nicht mehr für uns Alte. Da ist es am besten man geht und sucht sich eine andere Bleibe. Man packt seine sieben Sachen und verlässt sein Haus wie ich und geht ins Heim … Und da soll ich auch wieder weg … sie schüttelt energisch den Kopf.
Es klopft an der Tür … Ja herein! ... Es ist Jessica, die Praktikantin, die seit ein paar Tagen auf dem Wohnbereich mitarbeitet. „Na Frau Schubert wie geht es Ihnen heute? Haben Sie schon Ihre Wunderpillen genommen?“ Rose Schubert freut sich, dass Jessica wieder hereinschaut: „Hallo Jessica, mir geht‘s gut! Und die Pillen vergesse ich nie.“ Das stimmt zwar nicht ganz, denn ab und zu muss sie sich durch den Zettel erinnern lassen, der neben dem Telefon auf ihrem Nachttisch liegt. Darauf hat ihre Tochter mit dickem, schwarzen Filzstift ge-schrieben: „Mutti, Tablette nicht vergessen!!!“ Mit drei Ausrufezeichen. Und darunter war ein lächelndes Gesicht gemalt. Nach jeder Mahlzeit sollte sie eine nehmen, das tat sie auch meistens. Aber ab und zu vergaß sie es doch. Naja es ist halt doch das Alter.
„Frau Schubert, wollen sie nicht das Radio anmachen? Es kommt doch wieder Ihre Lieblingssendung.“ Stimmt, die will sie nicht verpassen. Sie schaut auf die Uhr, aber da fehlen ja die Zeiger … „Können Sie mir das Radio einschalten, Jessica?“ „Gerne!“ Jessica schaltet das Radio ein. „Ist es laut genug Frau Schubert?“ „Ja, vielen Dank.“ Es läuft gerade die Titelmusik, Rose Schubert summt leise mit und merkt gar nicht, wie Jessica das Zimmer verlässt.

Bei der Begrüßung durch den Moderator - das ist der mit dem komischen Nachnamen mit dem Y hinten, der so eine angenehme Stimme hat - schließt sie die Augen und lauscht. Der erste Gast wird vorgestellt, ein Pfarrer von – ach den Ort hat sie nicht verstanden. Ist ja auch egal, was der wohl zu sagen hat? … Er spricht über Orte und Städte. Ein Satz erregt Ihre Aufmerksamkeit: „Wir erwarten eine Stadt und kein Kuhdorf!“ Von was redet der? Sie hört nun aufmerksamer zu. Der Pfarrer spricht von einer zukünftigen Stadt Gottes. Da geht es wohl um das himmlische Jerusalem. Sie erinnert sich, davon hat sie doch auch schon im Konfirmandenunterricht etwas gehört. In dieser Gottesstadt soll es anders zu gehen als in unseren menschlichen Städten. „Wir erwarten keine Stadt mit Wolkenkratzern, sondern Gottes bergende Hütte.“ Wolkenkratzer müssen nun wirklich nicht sein, aber in Hütten leben, das muss auch nicht sein. … Sie geht in Gedanken durch ihr kleines Häuschen, von Zimmer zu Zimmer. … So hätte sie es schon gerne auch im Himmel, im Jenseits, nicht nur eine armselige Hütte. Und die vielleicht noch mit vielen anderen zusammen – nee, nee ein Einzelzimmer wie hier im Pflegeheim, das ist doch das mindeste, was man erwarten kann.
Sie ärgert sich über den Pfarrer und will schon das Radio ausschalten, da sagt dieser: „Es geht nicht darum, dass wir in der Hütte wohnen und leben sollen, sondern dass Gott in seinem himmlischen Jerusalem seine Wohnhütte mitten unter uns Menschen hat. Er ist uns ganz nah, er lebt nicht in einem Sicherheitsbunker und schottet sich mit hohen Mauern ab. Sondern schon von außen ist erkennbar, seine Hütte ist offen und einladend für jedermann, sie will Heimat bieten, Gemeinschaft stiften und fördern. Gottes Hütte ist sowohl Gemeinschaftshaus, als auch Schutzhütte, sie ist Kirche und zentraler Treffpunkt im himmlischen Jerusalem.“

Diese Worte haben es Rose Schubert angetan. Sie stellt sich vor, wie sie dort ihren Willy wieder trifft an oder in Gottes Hütte. Und was es da zu erzählen gibt. Wie ihre letzten Jahre waren. Ohne ihn. Wie sie anfangs viel geweint hatte. Wie sie eine Zeit lang sich fürchtete, dass sie ihn vergessen könnte und ihre gemeinsamen guten Jahre. ... Und zuhören wollte sie ihm auch und erfahren, wie er denn so gelebt hätte in den Jahren da oben ohne sie. …
„Vielen Dank für Ihr Zuhören, bleiben Sie uns gewogen bis zum nächsten Mal -Ihr Ralf Czychkotolunsky.“ Was, schon eine Stunde war vorbei? Sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Der Moderator mit dem Y hinten hat es wieder gut gemacht, jo, und der Pfarrer war auch nicht ohne. Sie kann sich zwar nicht mehr an alles erinnern, bei manchen Sätzen haben sich ihre Gedanken auch selbstständig gemacht, aber die grobe Linie aus der - das kann man schon sagen - aus der Predigt des Pfarrers kann sie behalten: „Wir sollen Gottes zukünftige Stadt suchen und dürfen uns darauf freuen.“ Nur da war noch was davor, der kurze Satz davor, der fällt ihr einfach nicht mehr ein. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Rose Schubert schaltet das Radio aus. Und blickt zur Wand auf ihre Uhr, die keine Zeit anzeigt. Das Pendel schwingt langsam hin und her, nach links, wo neben der Uhr ihr Hochzeitsbild hängt. Mehr als fünf Jahrzehnte alt. Das Pendel schwingt nach rechts, wo neben der Uhr weiße Raufasertapete ist. Ein kleiner Nagel ist bereits in die Wand eingeschlagen, als warte er auf ein Bild, das es noch nicht gibt.

Rose Schubert hört das gleichmäßige Ticken der Uhr. Das Pendel schwingt langsam hin und her. All das beruhigt sie ungemein. Wie gut, dass die Zeiger abgebrochen sind. Dieses unnütze Rennen im Kreis, immer wieder von vorn anfangen, die Hektik, das ist nix mehr für sie. Sie braucht auch mal Ruhe. Heute ist wieder ein guter Tag, aber er war anstrengend. Sie ist müde und will ein bisschen schlummern bevor das Abendessen kommt. Vielleicht träumt sie auch ein bisschen von ihrer Heimatstadt und von der Stadt mit der Hütte. Wer weiß schon genau, was die Zukunft uns bringt.