Gottesdienste und Predigten - - Erstellt von Diakon Rainer Groeschel

Gott nahe zu sein ist mein Glück

„Gott nahe zu sein ist mein Glück.”(Psalm 73,28) Was war ihr Glück im Leben gewesen? Wie hatte sie es mit der Kirche, der Religion und dem Glauben gehalten?

Rose Schubert liegt auf ihrem Bett. Nach dem Mittagessen legt sie sich immer hin oder besser gesagt, sie lässt sich hinlegen, denn viel mithelfen kann sie nicht mehr. Ihre Beine tragen sie nicht mehr und so muss eine Schwester oder der Bruder Gino sie ins oder aufs Bett legen. Sie muss lächeln, als sie an den hübschen, jungen Gino mit seinen kohlrabenschwarzen Haaren und dem Stoppelbart denkt, so einen hübschen Pfleger hatten sie noch nie hier. Wer den als Mann bekommt, die hat aber Glück. Da könnte man fast neidisch sein, aber in ihrem Alter, da will sie nix mehr wissen von Männern. Sie hatte ja ihren Willy. Sie haben eine gute, ja man kann schon sagen glückliche Ehe geführt. Mehr als fünf Jahrzehnte durften sie beisammen sein. … Ach, es war eine schöne Zeit mit ihm gewesen. Sie seufzt leise auf, Tränen fließen aber keine mehr aus ihr. Es ist doch schon eine ganze Zeit lang her, dass er sie verlassen, zurückgelassen hat hier auf der Erde. Nun muss sie halt warten, bis auch sie endlich …

Hat sie ein bisschen geschlafen? Es kommt ihr fast so vor. Wo ist sie hier? Ihr Blick schweift in ihrem Zimmer umher, da ist ihre große Wanduhr, immer noch ohne Zeiger, und dort sind die Fotos ihrer Liebsten. Was für eine große Familie sind sie geworden: Kinder, Enkel und Urenkel. Und alle sind gesund, welch ein Glück. Nur schade, dass nun alle so weit weg wohnen. An Weihnachten war diesmal niemand da. Aber die weite Reise konnte sie ihrer Tochter auch nicht zumuten. Die ist ja auch nicht mehr die jüngste und muss nun nach sich selbst schauen. Nur, dass sie soweit wegziehen musste zu ihrem neuen Partner. Aber der hatte ja dort `ne eigene Firma. Hoffentlich geht das auf Dauer gut. Aber warum sollte es auch nicht gut gehen? Sie hatte doch gesehen, wie zufrieden ihre Renate war, wenn sie in seiner Nähe war und die beiden etwas gemeinsam unternehmen konnten. Schön, dass sie im Herbst auf der Fahrt in den Urlaub einen Abstecher bei ihr hier gemacht hatten. Es kommt ihr zwar vor, als sei das vor einer Ewigkeit gewesen, aber es war tatsächlich erst vor ein paar Wochen. Junge, Junge, wie die Zeit vergeht und was man alles vergisst.

Ihr Blick fällt auf ihren Nachttisch, da sind sie die Schweizer Wunderpillen, die wohl doch ein bisschen was gebracht haben; es kommt ihr so vor, als ob sie weniger vergesslich wäre. In welcher Zeitung hatte ihre Tochter von diesem Medikament gelesen? … Es fällt ihr jetzt gerade nicht ein. …

Dafür kommt ihr die Leiter in den Sinn. Von heute Morgen. Vom Gottesdienst. In ihrer Kirche, in der sie schon so lange nicht mehr gewesen war. Sie hatte ja niemanden mehr, der sie dorthin fahren konnte frühmorgens zum 10-Uhr-Gottesdienst. Aber heute Morgen hatte Gino Zeit gehabt. Der hatte irgendwas im Dienstplan verwechselt und so fuhr er sie im Rollstuhl in den Gottesdienst in ihre Kirche – da, wo Willy und sie geheiratet hatten.

Allerdings, was sie dort gesehen hat, das ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. So was aber auch. Eine große Leiter in der Kirche. Direkt zwischen dem Altar und der Kanzel. Und das im Gottesdienst. Es sah so aus, als ob jemand die Leiter vergessen hatte aufzuräumen. Anderen ging es wohl ebenso. Also das passte doch nicht ins Gotteshaus. Oder?

Bei seiner Begrüßung sagte der Diakon, der wie immer an Neujahr den Gottesdienst hielt überhaupt nichts darüber, warum die Leiter da stand. Die konnte er doch unmöglich übersehen haben. Nach dem Lied ‚Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude‘, ging er bei der Predigt dann aber doch auf die Leiter ein. Er begann damit, dass er sagte „Menschen möchten gerne fensterln“. Und er erzählte von dem alten Brauch in Bayern, wo ein Mann auf eine lange Leiter steigen würde, um am Fenster seiner Liebsten anzuklopfen und um Einlass zu bitten. Und das sei manchmal ganz schön gefährlich, nicht nur wegen der Länge der Leiter. Auch mancher Vater der Angebeteten habe die Leiter zurückgestoßen und so seien einige unsanft auf dem Boden gelandet. Doch wenn man jemandem nahe sein wolle, müsse man auch etwas auf sich nehmen, selbst wenn es Rückschläge gäbe, meinte der Diakon. Und dann sagte er etwas von einer neuen Jahreslosung. Die irgendwo in den Psalmen der Bibel steht.

Und dazu dann las er den ganzen langen Psalm vor. Allerdings gefielen Rose Schubert einige Verse nicht, da war vom Umbringen die Rede und von Untergang. Nur den Schluss, den hatte sie wieder behalten: „Gott nahe zu sein ist mein Glück.” (Psalm 73,28) Was war ihr Glück im Leben gewesen? Wie hatte sie es mit der Kirche, der Religion und dem Glauben gehalten? Ganz ehrlich musste sie sich eingestehen, der liebe Gott war oft ganz weit weg in ihren Gedanken.  … Aber bei der Trauung und der Konfirmation ihrer Kinder, da hatte sie schon das Gefühl, dass Gott nahe war, das waren glückliche Momente. Und bei der Beerdigung ihres Willys, da in der Friedhofskirche, da hatte sie durch die Worte der Pfarrerin doch gespürt, dass sie getröstet wurde. Ob da Gott auch nahe war? Auch in unglücklichen Zeiten? … Und wieder gingen ihre Gedanken zurück …

Sie hatte manches verpasst, was der Diakon sagte. Dann aber war sie plötzlich wieder dabei und konnte den Worten des Diakons lauschen: Eine Jahreslosung soll und will Mut machen und keine Angst. Wohl dem Menschen, der sagen kann: Gott nahe zu sein ist mein Glück. Das sei ähnlich wie beim Fensterln, je näher man seiner Angebeteten, je näher man Gott sei, desto besser. Aber es gäbe einen Unterschied zum Fensterln. Dort sei die Anstrengung vielleicht vom Erfolg gekrönt, aber unsere menschliche Anstrengung Gott näher zu kommen sei vergeblich, wie schon die Geschichte des Turmbaus in Babylon zeige. Der Mensch könne von sich aus nicht zu Gott kommen. Im Gegenteil, Gott schiebe diesem Menschenwahn einen Riegel vor. Es gehe nicht immer höher hinaus, der Mensch könne nicht alle Grenzen überwinden, im Gegenteil es würden ihm Grenzen gesetzt.

Und dann, daran erinnert sich Rose Schubert noch genau, stieg der Diakon während des Gottesdienstes auf die Leiter und sagte: „Höher hinaus komme ich nicht, so sehr ich mich auch anstrenge. Auf der obersten Stufe ist Schluss. Wenn Gott scheinbar ganz weit da oben ist und ich Mensch hier unten bin, dann ist es unmöglich Gott näher zu kommen. Der erste Mensch im Weltall, der russische Kosmonaut Juri Gagarin soll gesagt haben „Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen!“  … Ha, wie sollte man Gott im Weltraum denn sehen? Das hätte sie dem Juri auch sagen können. Da war sie der gleichen Meinung wie der Diakon. „Gott ist nicht oben zu finden, sondern unten bei den Menschen. Gott kommt uns entgegen, an Weihnachten erst haben wir uns daran erinnert. Gott kommt uns in Jesus Christus als Mensch ganz nahe. Das ist des Menschen Glück, den ‚Menschen ein Wohlgefallen‘. Dass Gott zu uns Menschen kommt, ist ein Geschenk, darüber dürfen wir uns freuen und glücklich sein.

Rose Schubert ist erstaunt, wieviel sie doch noch behalten hat von der Predigt. Jetzt reicht es aber. Sie merkt, dass der Vormittag mit dem Kirchengang durch die frische Luft und die Wärme dann in der Kirche sie doch ein bisschen müde gemacht hat. Und das Mittagessen heute war doch zu gut gewesen, es gab ihr Lieblingsessen: … Und zum Nachtisch gab es einen kleinen leckeren Neujahrs-Eisbecher. Mit so einem komischen Keks drauf. „Das ist ein chinesischer Glückskeks!“ hatte ihre Tischnachbarin, die Frau Brunner, gesagt. „Da ist ein Zettel drin. Schauen Sie mal, was bei mir drauf steht.“ Und dann las Frau Brunner glückskekskauend den Spruch vor: „Hören Sie mal, der ist von Mutter Theresa: ‚Lasse nie zu, dass du jemandem begegnest, der nicht nach der Begegnung mit dir glücklicher ist.‘ Oh, das war harte Kost, besonders für die Frau Brunner, die manchmal so unzufrieden war. Wie sollte die jemand anderen glücklicher machen? … und sie selbst? Rose Schubert, geborene Maier, weit über 80 Jahre alt? Machte eine Begegnung mit ihr andere Menschen glücklich? Da ist sie schwer im Zweifel. Wie war es denn früher gewesen? War sie da selbst glücklicher? Daheim im eigenen, kleinen Häuschen mit Willy, ihren beiden Kindern und ihrer Hündin Senta? … Was ist Glück überhaupt? Wann ist man glücklich? Wenn man Gott nahe ist? … Da muss sie noch ein bisschen nachdenken. Der Diakon hat so manches in ihr angestoßen. Doch diese Leiter im Gottesdienst, das hat ihr nicht so gefallen. Aber originell war das schon. Und neugierig waren alle.

Aber jetzt reicht es ihr, die Gedanken sind nun weit herumgereist und -gekreist. Auf dem Nachttisch liegt noch ihr verpackter Glückskeks. Was für ein Spruch wohl in ihrem Keks schlummert? Nach dem Mittagschläfchen wird sie ihn essen und sich überraschen lassen. Und müde fallen ihre Augen zu.