Gottesdienste und Predigten - - Erstellt von Pfarrerin Heidrun Kopp

Du kennst mich!

Du kennst mich. Du kennst mich, zu wem könnten sie diesen Satz sagen? Wer kennt sie gut, wer kennt sie vielleicht besser als sie sich selbst kennen.

Predigt:

Liebe Gemeinde,
Du kennst mich. Du kennst mich, zu wem könnten sie diesen Satz sagen? Wer kennt sie gut, wer kennt sie vielleicht besser als sie sich selbst kennen. Schwer zu sagen? Die einen kennen eine Seite von mir, die anderen eine andere. Mit dem einen Menschen teile ich bestimmte Vorlieben, Gemeinsamkeiten, mit einem anderen andere. Mit  der Familie lebe ich eine Seite, hier im Haus mit Pflegern und Pflegerinnen, mit Betreuungsassistentinnen andere und mit Freundinnen und Freunden kommen noch einmal andere Seiten zum Tragen.
"Du kennst mich ja," ist ein alltäglicher Satz, aber wann sagen wir den?
„Du kennst mich ja“, „Sie kennen mich ja“ und meine damit eine bestimmte Situation, wo ich mich nicht mehr groß erklären muss, warum ich mich so verhalte und nicht anders, "du kennst mich ja". "Du kennst mich ja, deshalb weißt du, dass ich nicht so gerne telefoniere", "Sie kennen mich ja und so wissen Sie, dass ich nicht so gerne unter vielen Leuten bin."
Du kennst mich ja, du kennst einen Wesenszug , der zu mir gehört.
"Du kennst mich", so formuliert der Beter, die Beterin von Psalm 139. "Du kennst mich" und mit dem „du“ ist Gott gemeint. „Du Gott erforschest mich und kennest mich.“

Liebe Gemeinde,
ich höre hinter diesem Bekenntnis, hinter der Bitte, hinter dem  Wunsch, eine Frage: Wer bin ich?
Wer bin ich? Eine Frage die wir ja auch nicht täglich stellen, sondern dann, wenn sich in meinem Leben etwas verändert positiv oder negativ. Ich mich anders erlebe als sonst, wenn irgendetwas  mich verunsichert, ich nicht mehr so genau weiß wer ich bin. Wenn andere mich nicht so sehen wie ich mich selbst. Wenn mein Leben sich stark verändert, der Rahmen in dem ich mich seither bewegt habe plötzlich ein anderer wird, wenn sich äußerlich oder innerlich vieles verändert, ich mich in manchem selbst nicht mehr kenne, ich mich neu verorten muss.  

Dann stellt sich ganz heftig die Frage nach mir selbst: Wer bin ich?
So ist zum Beispiel der Umzug hierher ins Haus für viele von Ihnen so ein Umbruch gewesen. Sie haben vieles hinter sich gelassen. Sie mussten entscheiden, was nehme ich mit, was gehört zu mir, zu meinem Leben. Die letzte Phase des Lebens beginnt. Viel Rückblick gehört dazu aber auch die Frage: Was kommt noch auf mich zu? Wie verändere ich mich, wie verändert sich mein Leben? Was bleibt von mir, von der Frau, von dem Mann der ich einmal war? Was bleibt, wenn meine Erinnerung nachlässt? Was bleibt wenn ich vieles nicht mehr kann, was mein Leben seither ausgemacht hat? Ja was bleibt, wenn ich nichts mehr kann, vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen bin? Wer bin ich? Wer bin ich noch?

Liebe Gemeinde,
Wer bin ich? Dietrich Bonhoeffer hat ein Gedicht geschrieben mit dieser Frage „Wer bin ich?“

Gedicht:
„Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
 
Liebe Gemeinde, wer bin ich?
Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur bei Bonhoeffer vielschichtig. Was macht meine Person aus, wer bin ich?
Wenn ich die anderen frage, dann erhalte ich eine Antwort und je nach dem wen ich frage, auch eine andere Antwort. Der eine sieht mich so, der andere so. Der eine sieht in mir einen mutigen Menschen, die andere eine fröhliche Person.

Und manchmal ist das, was die anderen sagen, wer ich bin, anders als das, was ich selbst von mir denke und empfinde.  
Wir alle haben verschiedene Seiten in uns, viele Erinnerungen, Wünsche, Träume, Sehnsüchte. Ganz unterschiedliche Gefühle prägen uns: Mal sind wir ängstlich, mal traurig, mal dankbar, mal zufrieden, mal unruhig, mal glücklich. Und alles, alles gehört zu uns. Viele verschiedene Facetten der eigenen Person.
Liebe Gemeinde, das sind wir, das bin ich mit meiner ganzen Vielfalt. Aber es ist nicht so, dass wir diesen Schatz  einfach so zur Verfügung hätten. Wer bin ich?  Um auf diese Frage antworten zu können braucht es Begegnungen mit anderen.

Ich brauche ein Gegenüber das mir zuhört, vor dem ich mein Leben konstruieren kann. Bonhoeffer tat es in seinen zahlreichen Briefen. Seine Familie, seine Freunde waren sein Gegenüber. Er hat manchmal über ein und dieselbe Begebenheit in verschiedenen Briefen erzählt. Und jedes Mal ist es etwas anders, ob er es an seine Braut, an einen Kollegen, an seine Mutter schreibt. Wie ich erzähle, was ich erzähle, was ich von mir selbst spüre, hängt von den Menschen ab, mit denen wir Kontakt haben. Ein und dieselbe Geschichte wird dadurch verschieden. Fällt Ihnen etwas aus den letzten Tagen ein, was Sie erlebt haben und schon ein paar Mal erzählt haben, unterschiedlichen Leuten?
Und wenn wir eine Begebenheit immer wieder erzählen, demselben Mensch und in ähnlichen Worten, dann ist das auch nicht überflüssig. Es ist nicht bloße Wiederholung. Ach, jetzt erzählt sie schon wieder diese Geschichte....

Manchmal muss ein Lebensereignis oft erzählt werden, dass es in die eigene Lebensgeschichte eingebaut werden kann, dass es ein Teil meiner Person wird. Und auch dann ist es nicht ein für allemal erledigt sondern verändert sich auch noch einmal. So höre ich immer wieder von Ihnen, dass sich jetzt im Alter manches noch einmal anders sortiert. Sie einen anderen Blick auf das eine oder andere Ereignis Ihres Lebens werfen.

Und das ereignet sich nicht einfach so, sondern indem ich es erzähle oder auch aufschreibe.
Liebe Gemeinde, wenn wir uns nicht mehr erinnern können, dann entschwindet mir meine eigene Person. Darunter leiden viele Demenzkranke und ihre Angehörigen. Um so wichtiger dass Sie die Erinnerungen pflegen.

Nicht jede kann es so genial lösen wie eine Frau, die ich regelmäßig besuche. Jedesmal, wenn sie im Gespräch merkt, ein Ort, ein Name oder eine ganze Begebenheit fällt ihr nicht mehr ein, dann sagt sie mit einem Lächeln: „Wissen Sie das? Ich habe mein Leben geschrieben.“
Ich habe mein Leben geschrieben. Vieles weiß sie nicht mehr, aber das ist für sie ein großer Trost: Ich habe mein Leben geschrieben. All das was den Reichtum meines Lebens ausmacht, das ist festgehalten, auch wenn es mir nicht mehr in allem zugänglich ist. Ich weiß gar nicht genau, ob es dieses geschriebene Leben überhaupt gibt, ob die Söhne dieses Buch haben. Vielleicht ist das ja auch nicht so wichtig. Wichtig ist für diese Frau, dass ihre Lebensgeschichte mit ihrem nachlassenden Gedächtnis nicht einfach verschwindet, sondern es irgendwo und sei es in ihrer Phantasie aufgeschrieben ist.

Wenn ich Geschichten aus meinem Alltag, aus meinem Leben erzähle, spüre ich mich selbst in verschiedenen Ebenen. Das macht mein Leben reich. Ich erkenne mich, kann spüren und sagen, was mich ausmacht, wer ich bin. Aber dennoch, liebe Gemeinde, wer von uns könnte sagen: Ich weiß, wer ich bin, ich kenne mich.
Auch wenn wir uns noch so gut kennen, bleibt auch im Bezug manches Erkennen Stückwerk, manchmal mehr, manchmal weniger.

"Auch wenn ich mich selbst gar nicht oder nicht vollkommen kenne, so bin ich doch jetzt schon von Gott vollkommen erkannt", so schreibt Paulus.  Bonhoeffer formuliert es gebrochener am Ende seines Gedichtes:
„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“

Liebe Gemeinde,
er gibt die Frage nach sich selbst ab: Ich weiß oft nicht wer ich bin, aber du Gott weißt es.
In diesen Worte klingt der Psalm 139 an: Herr du erforscht mich und kennst mich.
Auch wenn ich mich selbst nicht kenne, nicht vollkommen kenne, Du Gott kennst mich. Du interessierst dich für mich, du nimmst Anteil an meinem Leben, du begleitest mich in meinem Leben fürsorglich.
Von Anfang an begleitest du mein Leben, du hast mich im Mutterleib gebildet. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin. Manches verstehe ich nicht, manches in meinem Leben macht keinen Sinn, mit manchem bin ich nicht einverstanden. Wie schwer sind für mich Gott deine Gedanken, seufzt der Beter und wer von uns könnte da nicht mit einstimmen?

Liebe Gemeinde auch wenn ich mein Leben, wenn ich mich nicht begreife, so kommt all das Grübeln, das Fragen zur Ruhe in der Gewissheit und dem Vertrauen: Am Ende Gott, bin ich noch immer bei dir. Du erforscht mich und kennst mich. Deshalb können wir unsererseits mit den Worten am Ende des Psalms rufen: Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege. Amen.
 
Lied:
Meine Zeit steht in deinen Händen 628, 1-3
 
Fürbittengebet
Barmherziger Gott, du trägst uns und du kennst uns.
Wir blicken zurück und danken dir. Wir danken dir für alles, was du uns in den vergangenen Zeiten, Wochen, Monaten, Jahren geschenkt hast. Wir danken dir für Begegnungen mit Menschen, Menschen die mich sehen, die mir zuhören, mich verstehen und mich berühren. Menschen, die mir nahegekommen sind und denen ich nahegekommen bin. Gespräche, die uns und andere weitergebracht haben, Worte, die ermutigt und Gesten, die getröstet haben.
Wir danken dir für die Möglichkeiten, die wir haben unser Leben zu gestalten.
Wir bitten dich barmherziger Gott, für alle, die mit sich selbst und dem Leben Mühe haben:
Für Menschen, die sich nutzlos und überflüssig vorkommen, die sich wie ein nichts fühlen.
Für Menschen, denen ein Gegenüber fehlt, das Interesse an ihrem Leben, an ihrer Person zeigt.
Für Menschen, die Angst haben vor Schmerzen, vor Gebrechlichkeit, vor Hilflosigkeit, vor dem Sterben.
Du Gott kennst sie, du trägst sie. Lass sie das spüren. Öffne uns die Augen und Ohren für ihre Not. Lass sie durch uns, unsere Nähe, unser Interesse an ihnen, unsere Zuwendung, deine Liebe erfahren.
Lass uns alle zuversichtlich nach vorn schauen und gelassen unseren Weg gehen, im Vertrauen darauf dass du uns kennst und wir dich eines Tages so kennen wie du uns jetzt schon kennst.
So denken wir vor dir an unsere Verstorbenen. Sie sind bei Dir geborgen. Wer bin ich? Sie haben nun in dir die Antwort gefunden, in Ewigkeit. Amen.