Gottesdienste und Predigten - - Erstellt von Pfarrerin Cornelia Reusch

Die Heilung des Blindgeborenen

Setzen Sie sich bequem hin auf ihrem Stuhl oder Rollstuhl. Legen Sie die Hände ganz entspannt ab. Wenn Sie noch ein Gesangbuch halten, legen Sie es neben sich. Ich werde Sie durch meine Worte mitnehmen auf einen Weg.

Liebe Gemeinde,
ich möchte Sie einladen, jetzt einmal die Augen zu schließen.
Setzen Sie sich bequem hin auf ihrem Stuhl oder Rollstuhl. Legen Sie die Hände ganz entspannt ab. Wenn Sie noch ein Gesangbuch halten, legen Sie es neben sich.
Ich werde Sie durch meine Worte mitnehmen auf einen Weg.
Stellen Sie sich vor, Sie sind zu Fuß unterwegs in der Hitze des Tages. Sie spüren, wie die Sonne auf Ihre Haut brennt. Ihr Gesicht ist erhitzt.
Da macht der Weg eine kleine Biegung und plötzlich stehen Sie vor einer alten Kirche.
Sie nehmen die Klinke in Ihre Rechte, drücken sie behutsam herunter. Die schwere Türe öffnet sich langsam. Sie schlüpfen durch den Türspalt hinein ins Innere. Eine angenehme Kühle hüllt sie ein. Sie legt sich um sie wie ein leichter Mantel. Es ist ganz still.

Ihre Augen sind noch ans helle Licht gewöhnt. Fast wie blind stehen Sie einige Momente da. Allmählich können Sie mehr sehen:
Die Bankreihen rechts und links. Vorne der Altar.
Sie gehen Schritt um Schritt nach vorne. Setzen sich in die vordere Bank, die beim Niedersetzen ein wenig knarrt.
Sie sitzen und genießen die Kühle, die Stille des Raumes. Ihr Blick schweift und fällt auf die bunten Glasfenster vorne, die Ihnen entgegen leuchten. Die Farben leuchten, die Bilder erzählen – es ist als wäre alles für Sie vorbereitet, als wollten Sie Ihnen – nur Ihnen – erzählen von Gott und seiner Welt, vom Wunder des Glaubens.
Es ist, als leuchte etwas aus Gottes Ewigkeit in Ihr Leben.
Sie sitzen und schauen – Momente. Eine halbe Ewigkeit? Wer weiß es. Und dann stehen Sie auf, gehen den Weg zurück durch die Bankreihen. Wenden sich noch einmal um und schauen ein letztes Mal zu den bunten Fenstern.

Entschlossen nehmen Sie den Türgriff in die rechte Hand und öffnen
die Tür. Es ist hell und heiß draußen. Sie treten ins Freie. Die Tür fällt ins Schloss. Langsam setzen Sie Ihren Weg fort. Was Sie erlebt haben, begleitet Sie weiter…
Und nun bitte ich Sie, die Augen wieder zu öffnen.
Hierher zurück zu kommen, hier in den Gottesdienst.
Jeder Gottesdienst – so hat einmal ein kluger Mensch gesagt – soll ein Fenster zu Gottes Geheimnis öffnen. Soll von Gottes Wundern erzählen wie die bunten Glasfenster in der Kirche, soll unsere Augen öffnen und schärfen, damit wir sehen, was verborgen ist.
Und so bitten wir: Gott, öffne unsere Augen, damit wir deine Wunder sehen.

Der Evangelist Johannes, liebe Gemeinde, erzählt viele Geschichten, die ums Licht kreisen: Jesus heilt  Menschen, ruft den toten Lazarus wieder ins Leben. Er nennt sich Licht der Welt. Das ist sein Auftrag, sein Wirken: Licht in die Finsternis zu bringen.
Johannes will unsere Wahrnehmung, unseren Blick schärfen, damit wir in rechter Weise sehen lernen.
Und nun diese Geschichte:
Ein Blindgeborener steht am Wegrand. Seinen Namen kennen wir nicht. Was ihn kennzeichnet, ist seine Krankheit: Von Geburt an blind.
Er hat das Licht der Welt erblickt, wurde geboren, ohne zu sehen.
Er weiß nicht, wie Bäume und Blumen aussehen, kennt nicht die Schönheit von Farben und Formen. Nie hat er ein menschliches Gesicht gesehen.
Wer hier im Raum mit eingeschränkter Sehkraft leben muss, weiß, was das bedeutet: Wie viel Unsicherheit und Angst damit einhergeht. Wie kleine Wege und alltägliche Handlungen zur Herausforderung werden. Belastungen, die schwer auszuhalten sind.

Wenn die Sehkraft nachlässt und Erblinden droht, dann wird unser Vertrauen auf eine harte Probe gestellt. Wie wichtig sind da Menschen, die sich einfühlen können und hilfreich unterstützen. Wie gut, wenn dann die eigene Wohnung, das Zimmer wie ein verlässlicher Partner ist, wo alles seine feste Ordnung, seinen angestammten Platz hat, wo die tastende Hand das Gesuchte sicher findet. Ordnung ist das halbe Leben – so sagt man. Für Erblindende ist sie weit mehr als das halbe Leben.
Ich kenne viele eindrückliche Beispiele, wie Menschen mit dieser großen Herausforderung der nachlassenden Sehschärfe umgegangen sind und umgehen und ich ahne von ferne, was es fürs tägliche Leben und Überleben bedeutet.

Wer von Geburt an blind ist wie der Namenlose in unserer Geschichte kann in seiner Dunkelheit nicht zurückgreifen auf Erinnerungen. Zwar haben auch Blindgeborene Vorstellungen und Bilder in sich: Von Bäumen und Blumen, Tieren und Menschen. Aber nie können ihre Bilder die Pracht und Vielfarbigkeit von Gottes Schöpfung einfangen.
Der Mann steht am Wegrand. Vielleicht ist dort sein angestammter Platz, um auf sich aufmerksam zu machen, einige Geldstücke als Almosen zu ergattern.
„Und Jesus ging vorüber und sah ihn.“

Jesus sieht ihn. Sein Blick fällt auf den Mann und er weiß, dass er blind ist.
Jetzt fällt auch der Blick der Jünger auf diesen Mann am Wegrand.
Und sie fragen nach: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“
Das ist uns sehr vertraut: Wer krank wird, fragt nach der Ursache: Warum passiert mir das? Was habe ich falsch gemacht, dass ich nun so geschlagen bin mit dieser schweren Krankheit? Hätte ich mich gesünder ernährt, mehr Bewegung gesucht, dann wäre ich nicht krank geworden. Und oft wird eine Krankheit als Strafe Gottes gedeutet – damals wie heute.
Warum straft mich Gott so?

Krankheit und Strafe Gottes gehören in der Vorstellung vieler Menschen zusammen.
Hören wir, wie Jesus antwortet:
„Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“
Niemand ist schuld an der Krankheit. Weder der Betroffene selbst noch seine Eltern! So lautet die eindeutige Antwort Jesu. Krankheiten sind nicht eine Strafe Gottes für Fehlverhalten, sind nicht gottgewollt. Wir brauchen uns damit nicht zu quälen – und auch nicht andere, die unsere Blicke und Fragen ja spüren, ausgesprochen oder nur gedacht.
Wie viel wäre gewonnen, wenn wir Jesu Worte beherzigen würden: Niemand ist schuld an dieser Krankheit.
Diese Antwort könnte schon ein Fenster öffnen, ein Fenster zum Himmel.

Gott ist nicht der, der Krankheit aussucht und schickt, um einen Menschen zu prüfen, zu quälen oder gar zu züchtigen. Gott will das gute Leben für seine Schöpfung, für uns Menschen.
Und so könnte sich ein Fenster öffnen und Licht bringen, wo jemand verzweifelt um die Frage nach Schuld und Verantwortung kreist.
Wo sich das Bild Gottes selbst verdunkelt hat, weil wir den strafenden, nachtragenden Gott sehen und unser Blick verhangen und getrübt ist.

Jesu Antwort malt ein anderes Bild von Gott:
„Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
Wir müssen die Werke dessen Wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt…“
Von Tag und Nacht ist die Rede, vom Wirken und vom Licht.
Alles dreht sich um das Licht – angesichts von Dunkelheit und Schwere des Schicksals, des Leidens.
Wie  kann sich ein Fenster zum Himmel, zum Licht öffnen – wenn es dunkel ist um uns, weil wir mit Blindheit geschlagen sind oder uns eine andere Krankheit, ein schweres Schicksal die Freude am Leben raubt?
Wie kann Licht fallen in Finsternis und Dunkel?

Jesus sagt: schaut auf diesen blinden Mann.
Wo alles unmöglich, aussichtslos scheint, da kann Gott Wunder wirken. An ihm will Gott seine Herrlichkeit zeigen.
„Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.“
Ganz irdisch geht es nun zu. Mit Spucke und Erde mischt Jesus einen Brei. Er streicht damit die Augen des Blinden aus.
Berührt ihn, behandelt ihn.

Und schickt ihn zum Teich Siloah mit der Aufforderung, sich zu waschen. „Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“
Erde und Spucke und Wasser – eine erfolgreiche Behandlung, die im Vollzug zur Heilung führt.
„Und kam sehend wieder.“ Die Heilung geschieht nicht augenblicklich, sie vollzieht sich Schritt um Schritt.
Auch darin liegt etwas Liebevolles, Behutsames: Ein Heilungsweg, an dessen Ende der Blindgeborene sehen kann.
So kann Licht fallen ins tiefste Dunkel.

Licht fällt ins Dunkel, Himmel und Erde verbinden sich.
Das alte Leben fließt dahin, Neues beginnt.
Jesus sieht die Menschen, die blind sind für Gottes Welt und doch sich sehnen, dass ihnen ein Fenster zum Himmel geöffnet wird.
Dazu ist er zur Welt gekommen, um Licht zu sein für die Blinden, Menschen wie wir, damit wir sehen lernen und singen, wie Matthias Claudius gedichtet hat:

Ich danke Gott und freue mich
wie's Kind zur Weihnachtsgabe,
dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
schön menschlich Antlitz habe,
dass ich die Sonne, Berg und Meer
und Laub und Gras kann sehen
und abends unterm Sternenheer
und lieben Monde gehen.
Gott gebe mir nur jeden Tag,
so viel ich darf, zum Leben.
Er gibt's dem Sperling auf dem Dach;
wie sollt er's mir nicht geben!

Amen.